Volksstimme: Und plötzlich steht das Leben Kopf

17.04.2020 CJD Sachsen-Anhalt « zur Übersicht

Vor einer großen Herausforderung stehen die Mitarbeiter des Christlichen Jugenddorfwerkes in Salzwedel. Das vorläufige Corona-Aus der Altmark Werkstätten fordert neue Orientierung für rund 80 Menschen in den Wohngruppen der Hansestadt.


Georg ist fassungslos. Die ganze Woche hatte sich der 43-Jährige auf seinen Einkauf im Supermarkt gefreut. Selber einkaufen zu gehen, ist für Georg etwas Besonderes. Mit Sorgfalt hatte der bullige Mann die Lebensmittel in seinen Einkaufswagen sortiert. Ordentlich nebeneinander lagen Gemüse und Obst. Als er – wie in jeder Woche - der Verkäuferin den fälligen Betrag in die Hand zählen wollte, lehnte die junge Frau ab. Wegen der Corona-Gefahr dürfen die Kunden nur noch mit Geldkarte bezahlen, hat sie gesagt. Aber Georg hat keine Geldkarte, Georg hat Geld. Die Münzen und Scheine sind sein ganzer Stolz. Verwirrt stellte Georg die Lebensmittel zurück in die Regale. Bedächtig. Traurig, denn was bitte ist das, Corona?!

Es sind Fragen wie diese, die die Mitarbeiter des Christlichen Jugenddorfwerks Deutschland (CJD) seit einigen Tagen bewegen, erzählt Anne Brünnette. Letztere ist verantwortlich für die Abläufe im täglichen Leben der rund 80 Menschen, deren Wohnbereiche das CJD Sachsen-Anhalt in Salzwedel betreut.


Georg (Name von der Redaktion geändert) lebt in einer Wohngemeinschaft. Von 7 bis 15 Uhr arbeitet er, unter Anleitung eines Facharbeiters, in der Tischlerei des Hilfswerks. Den Rest des Tages verbringt er gemeinsam mit den Menschen in seinem Wohnbereich. Unter den Mitarbeitern des CJD, die die  Wohngruppe begleiten, ist auch ein Sozialpädagoge. Der hilft, fragt und gibt Antworten. Vor allem aber bringt er Struktur in das Leben von Georg und dessen Mitbewohnern. Das war vor Corona.


„Für die Menschen in unseren Häusern sind feste Abläufe eine wichtige Hilfe“, sagt Anne Brünnette. Viele von ihnen nehmen die Begebenheiten des täglichen Lebens auf besondere Weise wahr, haben Schwierigkeiten damit, sich Dinge zu merken oder logische Schlüsse zu ziehen. Bei einigen kommen körperliche Beeinträchtigungen hinzu. Alle brauchen professionelle Unterstützung, um ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen, und am Alltag der Stadt teilhaben zu können. Dazu gehören auch tägliche Wege und die wiederkehrende Begegnung mit Freunden und Kollegen. „Die ständig selben Handgriffe im Alltag dieser Menschen gleichen einem Leuchtfeuer, das für Orientierung sorgt“, sagt Anne Brünette. Von besonderer Bedeutung sei dabei der eigene Arbeitsplatz. Er gebe den Menschen nicht nur einen Teil ihrer Würde; der tägliche Weg an die Werkbank, in den Garten, die Küche oder in die Wäscherei werde von den meisten mit Spannung erwartet. Damit ist es nun vorbei.


Aus ist es auch mit dem Besuch von Verwandten, der im CJD immer ein besonderes Ereignis ist, weil jeder Besucher auch von anderen Bewohnern freudig begrüßt wird.

 

„Diese Umstellung, die nun den Alltag unserer Bewohner auf den Kopf stellt, ist für alle Beteiligten schwer“, sagt Brünette. Für die Mitarbeiter im CJD gelte es, dem Tagesablauf jedes Einzelnen einen neuen Inhalt zu geben. Die abweichende Wahrnehmung vieler CJD-Bewohner fordere es, wiederkehrende Fragen immer neu zu beantworten. Darüber hinaus werde gebastelt, Gymnastik getrieben, zu Spaziergängen eingeladen, gepflastert oder der Garten umgegraben. „Alles freiwillig“, betont Anne Brünette, „und mit einer Engelsgeduld.“

Unterstützung bekommen die pädagogischen Mitarbeiter, die die Menschen in ihren Wohngruppen betreuen, derzeit von den Fachleuten aus den Werkstätten des CJD. „Wir erleben eine große Solidarität unter den Kollegen“, sagt Brünette. Die aktuelle Situation mache deutlich, wie eng die Menschen zusammenstehen, wenn es darauf ankommt. „Im übertragenen Sinne“,  fügt sie mit einem Augenzwinkern hinzu.